M. Nicolli: Les savants et les livres

Cover
Titel
Les savants et les livres. Autour d’Albrecht von Haller (1708 –1777) et Samuel-Auguste Tissot (1728 –1797)


Autor(en)
Nicolli, Miriam
Reihe
Travaux sur la Suisse des Lumières 16
Erschienen
Genève 2013: Slatkine Reprints
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Hächler, Edition Zurlaubiana, Aarg. Kantonsbibliothek Aarau

Miriam Nicoli versucht in dem aus ihrer Dissertation hervorgegangenen Werk vor allem anhand von Korrespondenzen, den Alltag der Wissenschaftler der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihrem Umgang mit wissenschaftlicher Literatur zu rekonstruieren. Nicht selten zieht sie auch andere Quellen und insbesondere Metatexte in den Büchern selbst (Vorworte, Widmungen, Anmerkungen etc.) bei. Dabei stellt sie die beiden Protagonisten Albrecht von Haller und Samuel-Auguste Tissot ins Zentrum ihrer Untersuchungen, nicht ohne deren näheres wissenschaftliches Umfeld, besonders die Korrespondenten Charles Bonnet und Johann Georg Zimmermann sowie weitere Personen aus diesem Netzwerk, einzubeziehen.

Akribisch schaut sie den Protagonisten beim Lesen, Exzerpieren, Zusammenfassen, Schreiben und Publizieren, beim Suchen nach Informationen, beim Diskutieren und Verbreiten von Erkenntnissen über die Schulter. Anhand zahlloser Beispiele, die oft mit Zitaten illustriert werden, entwirft Miriam Nicoli ein plastisches Bild davon, wie die untersuchten Wissenschaftler die alltägliche Praxis des Lesens und Schreibens von Büchern bewältigen.

In einem ersten Kapitel geht es darum, wie Haller, Tissot und Co. sich einen Überblick über die stets wachsende wissenschaftliche Textproduktion zu verschaffen suchen. Neben Informationen von Briefpartnern ist man auf Buchhändler- und Bibliothekskataloge, Zeitschriften, Verweise in Büchern usw. angewiesen. Sodann müssen Strategien der Auswahl und Bewertung entwickelt und angewandt werden, um in der kaum mehr zu bewältigenden Bücherflut, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das mehr oder weniger gebildete Europa überschwemmt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Was nach diesem Prozess als beachtenswert taxiert wird, soll möglichst schnell und kostengünstig in die Hände der Wissenschaftler gelangen. Wenn dann ein gewünschtes Werk endlich auf dem Schreibtisch des Gelehrten liegt, beginnt die eigentliche Arbeit des «professionellen Lesers»: Er muss sich Zeit und Raum schaffen (oft auf Kosten des «praktischen» Lebens, sprich der Erwerbsarbeit, der gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen und der elementaren menschlichen Bedürfnisse), um sich in die Materie vertiefen zu können. Er muss sich den Text möglichst schnell und zuverlässig aneignen, sich Notizen machen, das Wesentliche identifizieren, exzerpieren und mit bereits angelesenem und selbst erarbeitetem Wissen vergleichen.

Der «professionelle Leser» ist eben deshalb professionell, weil er das Gelesene für seine Profession, die Wissenschaft, fruchtbar einzusetzen gewillt ist. Die gelesenen Texte mehren sein Wissen, schärfen seine Urteilskraft, weisen direkt oder indirekt auf falsche und fehlende Erkenntnisse hin und beflügeln ihn, am universalen Projekt der Wissensvermehrung mitzuarbeiten, d.h. weiterführende Überlegungen zu machen, Forschung zu betreiben und seine neuen Erkenntnisse für die «république des sciences» schriftlich festzuhalten.

Den Problemen in diesem Prozess widmet Miriam Nicoli das zweite Kapitel. Wiederum sind es zuerst lebensweltliche Hindernisse, die überwunden werden wollen. Zahlreiche berufliche, gesellschaftliche und private Aufgaben und Verpflichtungen erfordern ein gutes Zeitmanagement, um sich genügend Musse für den Schreibprozess zu verschaffen. Auch wissenschaftliche Querelen und Intrigen, Probleme mit Druckern, Verlegern und sonstigem «Hilfspersonal» kosten immer wieder viel Zeit. Zeit, die umso kostbarer ist, als man als Wissenschaftler nur wahr- und ernst genommen wird, wenn man viel und möglichst frühzeitig publiziert. Steht dann endlich eine erste Version des Textes, muss das Manuskript kopiert, überarbeitet, von Kollegen gegengelesen und als publikationswürdig unterstützt werden. Einen zuverlässigen und zahlbaren Kopisten zu finden, ist oft eine richtige Herausforderung. Gleichzeitig sollte man bemüht sein, in der Fachwelt ein Interesse und einen potenziellen Markt für das zu publizierende Werk zu schaffen, indem man bestehende (wissenschaftliche und gesellschaftliche) Netzwerke aktiviert oder neue knüpft, Allianzen schmiedet, Promotoren sucht (z.B. mit geeigneten Widmungen). Nicoli nennt dieses Vorgehen, das sie ausgeprägt bei der «nouvelle génération de savants» feststellt (der Tissot und Zimmermann angehören), eine «stratégie d’autopromotion sociale» (S. 142).

Die nächste anspruchsvolle Aufgabe besteht darin, das Manuskript zu einer Publikation zu bringen, wie Kapitel drei illustriert. Es gilt u.a., einen geeigneten Drucker- Verleger zu finden, dessen Ansprüche mit den eigenen abzugleichen, den Entstehungsprozess aktiv zu begleiten. Dazu gehört der ständige und oft konfliktreiche Kontakt zum Drucker-Verleger. Buchformat, Papier- und Druckqualität, Ausstattung, Preise und Entlöhnungen, Termine, Vertrieb und Administratives sind die Themen der Autor-Verleger- Beziehung. Nicoli demonstriert diesen Prozess exemplarisch an Tissots Traité des Nerfs und Hallers Elementa Physiologiae sowie zahlreichen weiteren Beispielen.

Ist das Werk endlich erschienen, droht weiteres Ungemach. Die Zensur, Plagiatoren, Raubdrucker und nicht zuletzt die Exponierung in der Öffentlichkeit können dem Autor zusetzen. Publizierte Arbeiten werden in der Wissenschaftswelt diskutiert, kritisiert, bisweilen diffamiert. Dies zwingt den Autor dazu, sich für sein Werk auch nach der Publikation zu engagieren. Er muss es verteidigen, rechtfertigen, Allianzen zu dessen Gunsten schmieden. Schliesslich geht es nicht nur um den Fortschritt der Wissenschaft, sondern auch um die Reputation des Autors als Wissenschaftler und damit im Prinzip immer wieder um seine soziale und wirtschaftliche Existenz. Den vielschichtigen Wechselbeziehungen von Leser – Werk – Autor widmet Nicoli den letzten Teil dieses vierten Kapitels.

Im letzten Kapitel rückt der Umgang mit der Rezeption und dem Eigenleben einer Publikation zu Lebzeiten des Autors ins Blickfeld. Unter anderem geht es um bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnte Problemfelder wie das Plagiat oder den Raubdruck, aber auch um Zusammenfassungen und insbesondere die Überarbeitungen und Ergänzungen. Dabei spielen der Austausch mit der Leserschaft – also der eigentliche wissenschaftliche Diskurs – sowie weitere eigene Forschungen ebenso eine Rolle wie wirtschaftliche Überlegungen. Alle diese Elemente kulminieren im Umfeld von Übersetzungen. Eine Zusammenfassung, biografische Chronologien zu Haller, Tissot, Bonnet und Zimmermann, eine ausführliche Bibliografie (in der leider nur wenige deutschsprachige Arbeiten berücksichtigt sind) und ein Index vervollständigen Nicolis eindrückliches Werk, das sehr detailreich und akribisch Einblick in den «travail intellectuel à l’époque moderne» (S. 303) gewährt.

Als Kritikpunkt könnte man (abgesehen vom mangelhaften Lektorat, dem weder einige fehlende Zitatbelege noch die oft fehlerhaften Fussnoten hätten entgehen dürfen und das den Text mit dem Eliminieren von Wiederholungen hätte konziser und prägnanter machen können) anfügen, dass die Autorin die konkreten Beispiele oft bis ins letzte Detail ausführt. Sie begibt sich dabei wiederholt auf Nebengeleise und droht sich in der Materialfülle sowie den tollen Zitaten zu verlieren, wodurch sie die – methodisch intendierte – mikrohistorische Ebene auf Kosten der Makrohistorie fast überstrapaziert. Andererseits ist Letztere natürlich nur möglich und sinnvoll, wenn sie auf vielfältigem mikrohistorischem Erkenntnisschatz basiert. Und dieser ist nur zu haben, wenn Primärquellen gezielt und de profundis ausgewertet werden. Exemplarisch führt uns Nicoli das Potenzial solcher Quellen und ihrer Methode vor Augen. Insofern kann man nur wünschen, dass Nicolis Ansatz für weitere Figuren der Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit angewendet wird und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in Zukunft einmal synthetisiert werden.

Zitierweise:
Stefan Hächler: Rezension zu: Nicoli, Miriam: Les savants et les livres. Autour d’Albrecht von Haller (1708 –1777) et Samuel-Auguste Tissot (1728 –1797). Genève: Slatkine 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 56-58.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 56-58.

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